Hinter jedem Vorwurf liegt ein Wunsch – die VW-Regel!

07. Dezember 2021, geschrieben von 

Wir haben alle verschiedene Wahrnehmungen, wir lernen, hören und verstehen auch alle unterschiedlich. Daher ist es auch sehr verschieden, welche Methode die passende ist, um eine Einsicht zu erlangen, ein Aha-Erlebnis oder anderes Verständnis einer Situation zu bekommen. Der eine braucht ein Beispiel, die andere ein Bild auf dem Flip, wieder andere können mit einer theoretischen Darstellung eher etwas anfangen. Wenn wir als Mediator*innen also unterwegs sind, brauchen wir einen gut gefüllten Methodenkoffer, Flexibilität und manchmal Fantasie und Malkünste, um so gut es geht für jede Person das passende dabei zu haben.

Bei aller Methodenvielfalt gibt es aber auch die Methoden, die fast immer, überall und für jeden passen: Die VW-Regel von Manfred Prior ist meiner Erfahrung nach genauso eine Methode. V steht dabei für Vorwurf und W für Wunsch, und der Gedanke ist, dass hinter jedem Vorwurf ein Wunsch liegt, den es zu formulieren gilt.

Die Methode ist recht leicht zu erklären, man kann sich die Regel gut merken, und sie sorgt eigentlich immer für zunächst Verwunderung und dann Schmunzeln. Alles wirklich schöne Seiten einer Methode. Und ich nutze die Regel dann, wenn ich entweder besonders viele oder besonders schwere Vorwürfe höre.

Wer statt Vorwürfen die VW-Regel nutzt, sorgt für eine deutlich veränderte Kommunikation, weil auf einmal ein Wunsch oder eine Bitte daraus wird. Dazu kann das Gegenüber Stellung nehmen, eine Antwort geben oder eine Überlegung teilen. Keiner muss sich aber verteidigen, weil keiner angegriffen wurde. Ob die so geäußerten Wünsche erfüllt werden können, können die Mediant*innen dann besprechen: Wer wünscht was, wer kann was davon erfüllen, was aber auch nicht? Und was könnten die Parteien stattdessen tun?

Manchmal kann ein Beispiel aus der Mediation genutzt werden, um die Regel darzustellen, aber es können auch Beispiele aus dem normalen Alltag genutzt werden; gerade weil es jeder kennt, kommen fast alle auf ein Beispiel, wo man jemandem etwas vorwirft.

Um aber das Gespräch führen zu können, müssen die Parteien aus der Vorwurfsschleife raus. Da wir aber alle eine Sensibilisierung dafür haben, dass Vorwürfe nicht viel bringen, habe ich damit gute Erfahrungen gemacht.

Nur wenn der Konflikt sehr verhärtet ist, kann die Umformulierung zu herausfordernd sein, und es gibt dementsprechend Mediationen, wo ich die Regel nicht nutzen würde. Wer große Wut gegen jemanden oder tiefe Verletzungen von jemandem empfindet, ist eher abgeneigt, dieser Person gegenüber einen Wunsch oder eine Bitte direkt auszusprechen. Der Schritt ist zu groß. Auf generell formulierte Fragen wie „Was hätten Sie denn stattdessen gerne?“ oder „Wie würde für Sie im Moment ein erster Schritt zur Deeskalation aussehen?“ lassen sich die Parteien da eher ein.

Manchmal trägt die VW-Regel konkret zur Konfliktlösung bei, weil die Parteien allein durch die veränderte Kommunikation anders miteinander in Kontakt treten können; manchmal ist sie eher die Methode, um überhaupt ins Gespräch kommen zu können und die Konfliktthemen besprechbar zu machen.

Manchmal gebe ich diese Regel auch einfach einem Team mit auf dem Weg, um auch weiterhin gut im Gespräch zu bleiben.

Leichtgängige, im positiven Sinne simple Methoden können wohltuend sein. Und gerade diese hier könnten wir alle in unserem Alltag integrieren.

Würden Sie die VW-Regel in Ihren (Konflikt-) Alltag integrieren?

Letzte Änderung am 07. Dezember 2021
Mette Bosse

…arbeitet freiberuflich als Coach, Konfliktmoderatorin und Teamentwicklerin und leitet u.a. Seminare zu Konfliktmanagement im Career Center an der Hamburger Universität. Ursprünglich als Juristin in der dänischen Zentraladministration tätig hat sie mehrfach im Ausland gelebt. Hier sammelte sie vielfältige Erfahrungen, wie sich unterschiedliche Kulturen zueinander verhalten und interagieren. Ihr Anliegen ist es Menschen und Teams auf deren Weg zu begleiten, um Ressourcen und neue Wege zu erkennen und so neue Handlungsoptionen zu erschließen. Zuversicht, Wertschätzung und Resonanz sind dabei ihre wichtigsten Wertegrundlagen. Selbstreflektion und kollegialer Austausch bereichern und beflügeln ihre Arbeit.

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