Veränderungen außerhalb unserer Kontrolle haben Konfliktpotential – wie können wir uns gegenseitig unterstützen?

06. April 2020, geschrieben von 

Von außen kommende und ungewünschte Veränderungen werden von den meisten Menschen als die allergrößten Herausforderungen wahrgenommen. Zum Beispiel, wenn uns gekündigt oder unser Arbeitsplatz großen personellen oder strukturellen Veränderungen ausgesetzt wird. Ebenso privat, wenn wir einen lieben Menschen verlieren, bei Trennungen oder eigener Krankheit. Wir reagieren mit Wut, Trauer, Schockstarre, Verneinung, Verzweiflung, Unverständnis. Je größer die Veränderung, desto mehr werden wir herausgefordert und mit unseren Ängsten konfrontiert.

In der aktuellen Covid-19-Krise erleben wir vieles davon zugleich: Angst um unsere Gesundheit, um unsere Lieben, vor allem um unsere älteren und besonders gefährdeten Mitmenschen; finanzielle Ängste, Angst um den Arbeitsplatz oder das Überleben der eigenen Firma. Zukunftsängste: Wie soll es weitergehen? Wie lange wird unser Alltag verändert sein? Wir haben alle unsere konkreten persönlichen Erlebnisse dazu: Gesunde Firmen und erfolgreiche Freiberufler, die von einem Tag auf den nächsten akute Überlebensängste bewältigen müssen. Familienmitglieder, die wir nicht besuchen können. Komplexer wird die Situation dadurch, dass wir uns alle ausnahmslos mitten in der Krise befinden. Manche fühlen sich stärker belastet als andere, haben mehr oder weniger eigene Ängste. Aber wir befinden uns alle im – geräuschlosen und kontaktlosen – Epizentrum.

Die von außen kommende Veränderung unseres Alltags mag für alle gleich sein: Die Bedrohung durch das Virus, die Restriktionen für den privaten und beruflichen Alltag, das Aufeinander-Aufpassen und Einhalten der empfohlenen Maßnahmen. Je nach persönlicher Situation werden sie aber unterschiedlich wahrgenommen und unsere Art damit umzugehen ist sehr verschieden.

Manche können auf das Positive fokussieren und empfinden diese Zeit als eine lang ersehnte Pause vom stressigen Alltag. Freuen sich über die positiven Auswirkungen für die Umwelt oder darüber was alles möglich wird, wenn wir mehrheitlich an einem Strang ziehen.

Manche von uns spüren großen Tatendrang, andere eher den Impuls zu schlafen, bis alles vorüber ist. Wieder andere nutzen Humor, um den neuen Alltag zu bewältigen. Für wieder andere sind die Angst vor Ansteckung oder die vielen Begrenzungen die größte Herausforderung.

An sich kein Problem, nur können diese vielen verschiedenen Reaktionsmuster, die womöglich im Moment recht deutlich zu spüren sind, einfach weil die Situation für uns alle extrem ist, schnell zu Irritationen und Konflikten führen.

Es gibt viele Modelle, die die Reaktionen von Menschen und Organisationen in Veränderungsprozessen beschreiben und erklären. Mir fiel in den letzten Tagen als erstes die Change Curve (Veränderungskurve) ein. Ursprünglich wurde sie als Trauer-Kurve entwickelt, um die verschiedene Phasen des Sterbens zu beschreiben. Mittlerweile gibt es sie in vielen verschiedenen Varianten, die einen siebenstufigen Verlauf von beobachtbaren Reaktionen bei Menschen beschreiben, die sich Veränderungen ausgesetzt sehen, die sie nicht initiiert haben.

Die Veränderungskurve gibt zunächst Orientierung, kann uns aber auch Hinweise geben, was unser nächster Schritt sein könnte, um in dem Prozess weiterzukommen. Außerdem kann sie, das ist aus meiner Sicht für uns alle in der momentanen Situation sehr wichtig, uns darin unterstützen, die verschiedenen Verhaltensweisen bei uns, aber auch bei anderen zu akzeptieren. Alle tun ihr Bestes, um gut durchzukommen; jede Reaktion ist „normal“.

Die 7 Phasen der Change Curve:

  1. Schockphase: Nach der Vorahnung, dass etwas brodelt, kommt der Schock oder die Überraschung. Wie groß oder wie langanhaltend ist verschieden.
  2. Verneinungsphase: Man hält daran fest wie es vorher war, lehnt innerlich die Veränderung ab. Betrachtet die Situation als vorübergehend. Man beschäftigt sich eventuell mit Schuldzuweisungen.
  3. Phase des Verstehens: Man fängt an, die Notwendigkeit der Veränderung zu erkennen und sich vom „Alten“ zu verabschieden. Die Phase wird auch manchmal „Tal der Trauer“ benannt.
  4. Akzeptanzphase: Die emotionale Akzeptanz stellt sich langsam ein. Man sucht nach neuen Möglichkeiten und anderen Ressourcen, um mit der Situation klar zu kommen. Eine wichtige Phase, um entweder weiterzukommen oder einen Schritt zurück zu gehen.
  5. Phase des Ausprobierens: Man probiert die neuen Gestaltungsmöglichkeiten aus und fängt an, die Energie sinnvoll zu nutzen.
  6. Phase der Einsichtigkeit: Das Einfinden in die veränderte Situation fängt an. Man macht neue Erfahrungswerte: Was funktioniert, was nicht?
  7. Integrationsphase: Die Veränderung ist integriert und zur Normalität geworden.

Wie Sie auf der Abbildung sehen können, ist die vertikale Linie ein Indikator für Energie, also das beobachtbare Energieniveau einer Person in der jeweiligen Phase. Wo die Verneinungsphase eher energisch ist, ist die Phase der Akzeptanz eher von einem niedrigeren Energieniveau geprägt.

Wir gehen alle unterschiedlich durch die sieben Kurven und bleiben unterschiedlich lange in den verschiedenen Phasen; manche überspringen Phasen, manche bleiben in bestimmten Phasen „hängen“, manche gehen rückwärts.

Jemand, der sich gerade eben in der Situation halbwegs zurechtgefunden hat (vielleicht in der Phase der Einsicht), kann es als sehr störend empfinden, den Galgenhumor von anderen anhören zu müssen (die sich vielleicht in der Phase der Verneinung befinden) oder die Antriebslosigkeit von jemandem in der Phase des Verstehens zu ertragen. Wer sich noch im Schock befindet, kann nichts mit der Einsichtigkeit anderer anfangen. Wenn wir in einer solchen Situation Konflikte vermeiden möchten, können wir versuchen, uns gegenseitig genau da zu begegnen, wo wir jeweils gerade sind. Es gibt kein „richtiges“ und kein „falsches“ Verhalten. Anstatt unsere eigene Ansicht oder Verhaltensstrategie den anderen erklären oder aufzwingen zu wollen, können wir uns gegenseitig zuhören. Nicht um zu antworten oder Ratschläge zu geben, sondern nur um zuzuhören. Wer von einer Veränderung gestresst ist, kann oft nicht eine „bessere“ Reaktion verinnerlichen oder umsetzen, und Druck bewirkt eher oft Gegendruck. Vielleicht einfach darauf vertrauen, dass es „nur“ eine Phase ist. Seien Sie ein wenig nachsichtig miteinander, wir verarbeiten die Situation alle unterschiedlich.

Mir hat die Veränderungskurve in der letzte Zeit geholfen, meine eigenen Reaktionen verstehen zu können, aber auch um die vielen verschiedenen Reaktionen, die ich um mich herum beobachten konnte, zu akzeptieren.

Ich freue mich, wenn Sie Ihre Erfahrungen teilen. Was hat Ihnen geholfen?

Letzte Änderung am 18. April 2020
Mette Bosse

…arbeitet freiberuflich als Coach, Konfliktmoderatorin und Teamentwicklerin und leitet u.a. Seminare zu Konfliktmanagement im Career Center an der Hamburger Universität. Ursprünglich als Juristin in der dänischen Zentraladministration tätig hat sie mehrfach im Ausland gelebt. Hier sammelte sie vielfältige Erfahrungen, wie sich unterschiedliche Kulturen zueinander verhalten und interagieren. Ihr Anliegen ist es Menschen und Teams auf deren Weg zu begleiten, um Ressourcen und neue Wege zu erkennen und so neue Handlungsoptionen zu erschließen. Zuversicht, Wertschätzung und Resonanz sind dabei ihre wichtigsten Wertegrundlagen. Selbstreflektion und kollegialer Austausch bereichern und beflügeln ihre Arbeit.

1 Kommentar

  • Kommentar-Link Lidia Schawich 18. April 2020 gepostet von Lidia Schawich

    Hey, sehr interessant. Kann meine Reaktion auch gut an der Kurve einordnen. Merke ich mir ;)

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